Auf einer Großkundgebung soll heute an die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu vor 100 Tagen erinnert werden. Der Druck auf die Opposition wurde zuletzt immer stärker.
Die 19-jährige Eda studiert Politikwissenschaft an der Istanbuler Yeditepe-Universität. Nach der Festnahme von Bürgermeister Ekrem İmamoğlu im März organisierte sie dort mit Kommilitoninnen spontan Protestaktionen. Sie rechnete mit 50 Teilnehmenden, es kamen 350, erinnert sie sich.
Am Rathaus in Saraçhane trafen sie sich mit Studierenden von anderen Universitäten. "Diese Szene war für mich unvergesslich. Ich weiß nicht, wie viele Menschen das dort waren, aber ich fühlte mich unglaublich stark – und sehr zufrieden", sagt sie.
Der inhaftierte und abgesetzte Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu steht heute in zwei Prozessen vor Gericht.mehr
Angetrieben von der jungen Generation gingen in den folgenden Tagen Hunderttausende auf die Straße. Es wurden die größten Massenproteste in der Türkei seit zwölf Jahren. Es ging nicht mehr nur um die Festnahme von İmamoğlu, dem aussichtsreichen Gegenkandidaten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Die Menschen forderten den Rücktritt der Regierung.
Der Staat griff hart durch. Polizeigewalt und Festnahmen. Auch Eda war betroffen. "Es war fünf Uhr morgens, ich schlief noch, als es an der Tür klopfte", erinnert sie sich. "Draußen standen sechs Polizisten, eine Frau und fünf Männer. Sie waren sehr freundlich, aber ich glaube, das war nur mein Glück. Von anderen habe ich das nie gehört."
Eda musste einige Zeit in Hausarrest. Im September begann der Prozess gegen sie wegen unerlaubter Teilnahme an einer verbotenen Demonstration.
Die deutschen Bemühungen um eine Freilassung des Oppositionspolitikers İmamoğlu sind überschaubar.mehr
Drei Monate nach der Inhaftierung İmamoğlus ruft dessen Partei CHP nach wie vor zu Kundgebungen auf. Mittwochs in Istanbul, am Wochenende in einer anderen Stadt. Sie ziehen immer noch Tausende Menschen an. Doch die ganz großen Massenproteste gehören der Vergangenheit an.
In fünf Verhaftungswellen sind unter Korruptionsvorwürfen zahlreiche Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung festgenommen worden. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der CHP wurden abgesetzt, Verfahren eröffnet gegen den Parteivorsitzenden Özgür Özel und andere Politiker.
Der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Istanbuler Sabanci-Universität sagt, die Ermittlungen seien in der Bevölkerung nicht sehr beliebt. "Meinungsumfragen zufolge betrachten etwa 60 bis 65 Prozent der Wähler diese Operationen als politisch motiviert. Sie sehen keine Substanz, was natürlich ein Schlag ins Gesicht der Regierung ist", sagt er. "İmamoğlu ist also inhaftiert, behält seine Popularität und kann erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung verzeichnen."
In Istanbul protestierten Hunderttausende für die Freilassung des CHP-Politikers.mehr
Die Frage ist nur: Wie lange noch? Denn für die CHP kommt jetzt ein Gerichtsprozess hinzu. Der Vorwurf: Parteichef Özel habe seine Wahl auf dem Parteitag 2023 erkauft. Özel weist die Vorwürfe von sich, doch sollte er verurteilt werden, könnte der ehemalige Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu eingesetzt werden. Der scheint dieser Idee nicht abgeneigt.
Viele Menschen in der Türkei sehen darin den Versuch von Präsident Erdogan, die Opposition nach seinem Belieben umzubauen. Denn: Kilicdaroglu ist für ihn ein bequemer Gegenkandidat, der in den vergangenen Jahren einige Wahlen gegen Erdogan verloren hat. Unter Özel hingegen wurde die CHP bei den Kommunalwahlen landesweit stärkste Kraft.
Auch Politikwissenschaftler Esen vermutet hinter all dem nicht eine etwa unabhängige Justiz, sondern den Staatspräsidenten. "Die Aberkennung von İmamoğlus Diplom, dann: ihn zu verhaften, danach die Inhaftierung der Bürgermeister und jetzt der Angriff auf die Parteiführung: Das sind alles verzweifelte Schritte, die Erdogan unternimmt, weil es für ihn keinen anderen Weg mehr gibt, eine Wahl zu gewinnen."
Ekrem Imamoğlu gilt als größter politischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Erdoğan.mehr
Für den Politikwissenschaftler ist es eine Art Abnutzungskampf mit offenem Ausgang. Zerbricht die Opposition unter der zunehmenden Repression? Oder kann sie den Protest bis zum nächsten regulären Wahltermin im Jahr 2028 aufrecht erhalten?
Die 19-jährige Studierende Eda hofft darauf, dass sich etwas verändert. "Ich will eine bessere Zukunft. Aber ich weiß nicht, was mich erwartet. Es hängt davon ab, ob die derzeitige Regierung sich ändert – oder nicht." Der Prozess gegen die CHP-Parteiführung ist erstmal vertagt worden – auf September. Zum 100. Tag nach der Verhaftung İmamoğlus hat die Partei für heute Abend zu einer Großkundgebung am Istanbuler Rathaus aufgerufen.